Es ist eine einfache Gleichung: je stärker das Wirtschaftswachstum, desto größer der Werbeaufwand. Doch im Jahr 2020 war eine außergewöhnliche Entwicklung zu verzeichnen: Während der größten Rezession seit 1945 ist das Verhältnis der Werbeausgaben zum BIP der US-Wirtschaft sogar gestiegen1. Wie ist das möglich – und wie wird die Entwicklung angesichts des rasanten Wirtschaftswachstums im Jahr 2021 weitergehen? Sollten wir nicht in Substanzwerte investieren, etwa in Werbeagenturen, die günstig bewertet sind und von einer Konjunkturerholung profitieren werden?
Bis zu einem gewissen Punkt könnte dies sinnvoll sein. Wir teilen die Meinung, dass der Werbemarkt in den nächsten Jahren einen Boom erleben dürfte – nicht nur in den USA, sondern weltweit. Laut unseren Daten werden die US-Werbeausgaben zwischen 2021 und 2025 durchschnittlich mit einer zweistelligen Rate wachsen2. Doch dies bedeutet nicht, dass wir in die Ära der „Mad Men“ mit ihren Zwei-Martini-Mittagessen zurückkehren – was sehr schade ist. Die Realität fällt etwas nüchterner aus.
Der US-Werbemarkt verzeichnet das genannte Wachstum, obwohl für Radio-, Zeitungs- und Zeitschriftenwerbung ein Rückgang prognostiziert wird. Der Fernsehwerbung gelingt es möglicherweise, das aktuelle Volumen zu halten. Und die Außenwerbung könnte sogar geringfügig wachsen. Doch fast das gesamte Wachstum entfällt ausschließlich auf den Digitalbereich. Wer sind die Gewinner? Nicht etwa Agenturen, sondern Amazon, Alphabet und Facebook. Der kombinierte Anteil dieser drei Unternehmen am globalen Werbemarkt wird von knapp über 40% im Jahr 2020 voraussichtlich auf 60% im Jahr 2024 steigen3.
Digitale Werbung ist für Werbetreibende einfach ein besseres Produkt als traditionelle Medien. Sie ist zielgerichtet, messbar und generiert in Bezug auf die Werbeausgaben höhere Renditen. Vor allem aber hat sie die Werbung „demokratisiert“: Die große Zahl kleiner und mittlerer Unternehmen, die sich landesweite TV- oder Printkampagnen nie leisten könnten, kann mit ihrer Hilfe neue Kunden gewinnen und die Beziehungen zu bestehenden Kunden verbessern.
WPP war laut Angaben in seinem Geschäftsbericht 2019 der größte Käufer von Werbung auf den Plattformen von Facebook und Google4. Dennoch entsprach dies nur 4% des Umsatzes von Facebook. Als Unilever, einer der größten Werbetreibenden weltweit, im Juni 2020 seine Ausgaben für Facebook-Werbung einstellte, hätte das den Social-Media-Giganten nicht wirklich belastet (und vermutlich auch kaum dazu beigetragen, die Wachstumsraten von Unilever zu steigern, denn im Dezember hat der Konzern den Boykott stillschweigend beendet5).
Für die große Zahl kleiner und mittlerer Unternehmen war Werbung nie wichtiger als während der Covid-Pandemie. Als der Einzelhandel schloss, traten die „Kundengewinnungskosten“ an die Stelle der Miete – dies ist inzwischen eine Binsenweisheit. Egal, ob Sie Hüte, Hamburger oder Hotelübernachtungen verkaufen – ohne Internetpräsenz machen Sie kein Geschäft. Der Marktanteil von E-Commerce ist in den USA im Vergleich zu China oder Großbritannien nach wie vor relativ gering. Daher besteht Potenzial für ein anhaltend starkes Wachstum in den kommenden Jahren. Und angesichts der derzeitigen regulatorischen Anforderungen und der Besorgnis über den Datenschutz verfügen die Eigentümer von First-Party-Daten – also erneut Facebook & Co. – über eine deutlich stärkere Position als die Konkurrenz.
Pessimisten würden argumentieren, dass voraussichtlich schon in wenigen Jahren praktisch der gesamte Werbemarkt aus digitaler Werbung bestehen wird, sodass sich die Wachstumsraten beider Märkte angleichen und sich das Wachstum der großen Drei verlangsamen dürfte. Wir sind jedoch überzeugt, dass der starke Wachstumstrend noch längere Zeit anhält und die Marktgröße unterschätzt wird. Denn auch die nicht gemessenen Marketingbudgets – verkaufsfördernde Aktivitäten, die nicht in den Bereich der traditionellen Medien fallen, darunter Sportsponsoring, Gutscheine oder Columbia-Threadneedle-Kugelschreiber – werden zunehmend in die besser messbare Welt der digitalen Werbung verlagert. Wir glauben, dass diese Entwicklung das Potenzial hat, die Gesamtgröße des globalen Zielmarkts auf USD 1,3 Bio. mehr als zu verdoppeln.
Natürlich ist es durchaus möglich, neben Engagements in Unternehmen wie Facebook oder Alphabet eine Position in einer Werbeagentur zu halten. Jedes Unternehmen hat seinen Preis, und es wird stets Platz für kreative Werbeschaffende geben. Doch die Veränderung des Werbemarktes verdeutlicht einige der Schwierigkeiten, die in einer Zeit des technologischen Wandels mit Value Investing verbunden sind. Wertorientiertes Anlegen ist in vielen Fällen mit der Idee der Rückkehr zum Mittelwert („Mean Reversion“) verbunden: In der Vergangenheit sind die Werbeausgaben ungefähr mit dem 1,5-Fachen des BIP-Wachstums gestiegen – wenn also die US-Wirtschaft in diesem Jahr um 10% wächst, sollten die Werbeausgaben um 15% steigen6.
Aber woher wissen wir überhaupt, was der Mittelwert ist? Der Wert von Erdöl war während des größten Teils der Menschheitsgeschichte gleich null. Wir sind keineswegs der Ansicht, dass Öl erneut wertlos werden wird, ganz gleich, wie schnell sich Elektrofahrzeuge durchsetzen. Doch es wäre auch unklug anzunehmen, dass die Ölnachfrage künftig in einem ähnlichen Verhältnis zum globalen BIP-Wachstum steigen wird wie in der Vergangenheit. Inzwischen stehen auch andere Quellen für Brennstoffe zur Verfügung. Zweifellos gab es in den 1920er Jahren Hufschmiede, die Automobile und Traktoren für eine Modeerscheinung hielten, doch damit lagen sie offensichtlich falsch. Das ist der Kern des Begriffs der „kreativen Zerstörung“, den der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter prägte. Branchen steigen und fallen. Doch angesichts des Aufstiegs der digitalen Werbung sollten wir vielleicht eher über die „Zerstörung der Kreativen“ reden als über Schumpeters berühmteres Konzept.