Pekings neue Strategie setzt auf autarkes Wachstum. Dabei muss die Regierung aber auch hoch verschuldete Sektoren wie beispielsweise den Immobiliensektor stabilisieren und gleichzeitig ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten sicherstellen, um die soziale Stabilität nicht zu gefährden. Anleger waren auf die politischen Überraschungen des Jahres 2021 nicht vorbereitet, es bieten sich aber nach wie vor Möglichkeiten für Investitionen im Einklang mit politischen Prioritäten.
Als die chinesische Regierung im Juli anordnete, dass Kernelemente des Geschäftsmodells
privater Nachhilfeunternehmen nur noch auf gemeinnütziger Basis betrieben werden dürfen1, könnte das auf Beobachter im Westen etwas bizarr gewirkt haben. Aber diese Maßnahme war
nicht nur ein Versuch, die steigenden Bildungsausgaben von Eltern zu senken und so zur
Erreichung des Ziels eines „gemeinsamen Wohlstands“ beizutragen. Viele verstanden nicht,
dass dies auch ein Versuch war, die Kaufkraft der Mittelschicht zu stärken. Auf diese Weise
sollte die chinesische Bevölkerung dazu animiert werden, mehr in China gefertigte Waren zu
kaufen und damit die Exportabhängigkeit der Volkswirtschaft zu verringern.
China hat 2021 für unzählige Überraschungen gesorgt. Nicht zuletzt hat sich das Wachstum
unerwartet stark verlangsamt. Aufgrund von politischen Reformen, Kreditbeschränkungen und
Stromausfällen dürfte das BIP-Wachstum zum Jahresende bei 7,5 % bis 8 % liegen und sich im
ersten Halbjahr 2022 noch weiter auf weniger als 5 % verlangsamen. Ebenso überraschend sind
jedoch die politischen Reformen.
Zu Jahresbeginn 2021 ist die chinesische Wirtschaft noch stark gewachsen. Die chinesische Regierung hat dies genutzt, um den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen – eine löbliche Vorgehensweise. Zukünftig muss sie in wirtschaftlicher Hinsicht einen schwierigen Spagat meistern: Sie muss einerseits die Arbeitslosenquote unter der kritischen Marke von 5,5 % halten und andererseits in hoch verschuldeten Bereichen wie dem Immobiliensektor, den Kommunalverwaltungen und staatlichen Unternehmen verschärfte Kreditbedingungen beibehalten. Gleichzeitig will sie vor dem Hintergrund der anhaltenden Handelsspannungen mit den USA den Binnenkonsum ankurbeln und sowohl im Hinblick auf Exporte als auch auf ausländische Investitionen die Abhängigkeit von der Außenwelt verringern.
Bei der Verfolgung dieser strategischen Ziele – finanzielle Stabilität, soziale Stabilität und
autarkes Wachstum – wird China mehr denn je auf konkrete finanzielle Anreize setzen. Die
Kredite dürften 2021 auf realer Basis weitgehend seitwärts tendieren, wir gehen von einem
Wachstum von etwa 11 % aus. Wichtiger ist jedoch die Umwidmung von Mitteln zu den
Schwerpunktsektoren wertschöpfungsintensive Fertigung, grüne Energie und kleine und
mittelständische Unternehmen. Seit China 2001, also vor inzwischen 20 Jahren, der
Welthandelsorganisation beitrat, ist es immer die billige Werkbank der Welt gewesen. Aber in
dem Maße, wie sich die außenpolitischen Beziehungen eintrüben, bemüht sich das Reich der
Mitte mehr und mehr um den Schutz der Lieferketten und seiner eigenen Wirtschaft. In den
nächsten zehn Jahren wird China dazu übergehen, für seine eigene Bevölkerung zu
produzieren.
Wie wird die Regierung die Mittelschicht davon überzeugen, Waren „made in China“ zu kaufen? Man darf nicht vergessen, dass Durchschnittschinesen in ihrem Leben auf drei Dinge sparen: ein Haus, eine gute Bildung der Kinder und Gesundheitsversorgung. Die Verringerung der Bildungskosten spielt also eine wichtige Rolle, wenn China die Abhängigkeit von außen verringern will, ebenso wie die Senkung der Kosten für Wohnraum.
Das Problem des Finanzsystems mit der Asset-Qualität
Die Stabilisierung des Immobiliensektors hat Auswirkungen auf die Asset-Qualität des
Bankensektors. Es ist hinlänglich bekannt, dass Evergrande, einer der größten
Immobilienentwickler des Landes, Schwierigkeiten hat, seine Schulden zu bedienen2, aber
tatsächlich sind die Schwierigkeiten des Immobiliensektors weitaus größer. Die Schulden der
Immobilienentwickler belaufen sich auf 20 Billionen RMB (3 Billionen USD), dies entspricht rund
10 % der gesamten Unternehmenskredite oder etwa 20 % des nominalen BIP.3
Als 2020 die Coronavirus-Pandemie in China durch die massive Ausweitung der Kreditvergabe
bekämpft wurde, wurden diese Kredite hauptsächlich von kleinen und mittelständischen Banken
gewährt. Sie sind aber gleichzeitig die Institute mit dem stärksten Engagement im
Immobiliensektor. Die fünf größten Banken verfügen über eine solide Kapitaldecke und sind auf
geordnete Weise gewachsen. Dagegen ist rund die Hälfte der kleineren Banken nach westlichen
Standards technisch zahlungsunfähig. Seit der weltweiten Finanzkrise sind die Aktiva der fünf
großen Banken von 110 % des BIP auf 135 % angewachsen – bei den kleineren Banken wurde
hingegen ein sprunghafter Anstieg von 90 % auf 190 % verzeichnet.4
Allerdings ist sich China des Problems bewusst und verfügt über die erforderlichen Ressourcen,
um dieses Problem auch zu lösen. Eine Finanzierungskrise scheint unwahrscheinlich, denn den
weltweiten Finanzmärkten droht keine offensichtliche Ansteckungsgefahr: Chinesische Banken
finanzieren sich über inländische Quellen und die People‘s Bank of China, die Zentralbank der
Volksrepublik China, kann im Falle eines Finanzierungsproblems auf ein breit gefächertes und höchst wirkungsvolles Instrumentarium zurückgreifen. Verschiedene interne und externe
Faktoren könnten eine Finanzierungssperre auslösen. Diese Faktoren würden jedoch nur
eintreten, wenn es vorher zu einem Vertrauensverlust in das System gekommen wäre, und dies
scheint unwahrscheinlich.
Die Stimmung am Aktienmarkt wird schlechter
Am Aktienmarkt haben die Probleme des Immobiliensektors in Verbindung mit der
aufsichtsrechtlichen Neuorganisation des Internet- und des E-Commerce-Sektors die Stimmung
belastet. Seit Jahresbeginn 2021 sind Immobilienentwickler (ohne die Evergrande Group) bei
Schulden in Höhe von rund 12,7 Milliarden USD in Verzug geraten, dies entspricht 4,7 % des
chinesischen Hochzinssektors.5
Um eine Abkühlung des Sektors herbeizuführen, führte die chinesische Regierung 2020 die „drei
roten Linien“ ein. Sie stehen für drei Bilanzkennzahlen, die herangezogen werden, um die
Verschuldung von Immobilienentwicklern einzudämmen: das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu
Vermögenswerten, der Nettoverschuldungsgrad und das Verhältnis von liquiden Mitteln zu
kurzfristigen Verbindlichkeiten. Wenn ein Immobilienentwickler bei diesen drei Kennzahlen die
Messlatte reißt, kann er kein neues Fremdkapital mehr aufnehmen, kann also nicht umschulden
und nicht wachsen. Zur Regulierung von Grundstücksverkäufen hat die Regierung in 22 Städten
zentralisierte Grundstücksauktionen eingeführt.6 Aber diese Maßnahmen waren bisher nur
begrenzt von Erfolg gekrönt, in einigen Regionen sind die Preise trotz der Versteigerungen hoch
geblieben.
Der Sektor der Internet- und E-Commerce-Firmen befindet sich nach einer jahrelangen Phase
mit rasantem Wachstum nun mitten in einer aufsichtsrechtlichen Neuorganisation. Ziel ist es,
genau die Datenschutzprobleme und monopolistischen Tendenzen zu bekämpfen, die bei
vergleichbaren Unternehmen im Westen aufgetreten sind. Aber da in China eine Kommandound Kontrollwirtschaft herrscht, lässt sich die Macht dieser Unternehmen leichter beschneiden.
Die Stimmung der Anleger trübte sich im Juli ein, nachdem die chinesischen Aufsichtsbehörden
wegen mutmaßlicher Datenschutzverstöße eine Untersuchung gegen den führenden
chinesischen Fahrdienst-Vermittler Didi Chuxing7, einleiteten, nur wenige Tage nach dem
Börsengang des Unternehmens in New York.
Vielversprechende Anlagemöglichkeiten
Doch selbst nach den regulatorischen Überraschungen des Jahres 2021 und trotz der Abkühlung
des Wirtschaftswachstums gibt es für Anleger im großen und breit gefächerten chinesischen
Aktienuniversum noch zahlreiche Möglichkeiten. Im Hinblick auf E-Commerce, gemeinsamen
Wohlstand und den Nachhilfesektor drohen aufsichtsrechtliche Gegenwinde, in vielen anderen
Bereichen verfolgt die Regierung in Peking dagegen eine ermutigende Politik.
Zu diesen Bereichen gehören die wertschöpfungsintensive Fertigung und grüne Energien wie
der Elektrofahrzeugsektor. Die strategischen Ziele, die sich 2021 abzeichneten, scheinen diese
Sektoren keineswegs zu bremsen, sondern ihnen vielmehr einen kräftigen Schub nach vorne zu
verleihen.